Rhetorischer Kontext

Der rhetorische Hintergrund der Figurenlehre ist für das Lesen von Burmeisters Musica poëtica essentiell wichtig. Der Zweck dieser Sammlung von rhetorischen Mittel erschließt sich vor allem dann, wenn der gesamte Aufgabenbereich der Rhetorik, den Burmeister aus seinem universitären und schulischen Umfeld wohl mitdenkt, berücksichtigt wird. Gottfried Scholz gibt einen Überblick über die schulische Ausbildung Burmeisters am Johanneum in Lüneburg. Sein Lehrer Albert Lenicer veröffentlicht ein Lehrbuch der Rhetorik. Außer Cicero behandelt Lenicer Melanchtons Rhetorica (Scholz 1996, S. 27). Scholz nennt außerdem Dresslers musica poetica-Traktat und die Reform der universitären Lehre in Rostock als Rahmen für die Entstehung der Figurenlehre. Im Zuge der Reform fällt die metaphysische musica theorica aus dem Fächerkanon. Möglicherweise steht Burmeisters Traktat in einer Reihe von Texten, die eine neue Form der Musiktheorie anbieten, und sich als Fach den anderen hochgehängten Fächern annähern will (Scholz 1996, S. 36).

Rhetorik definiert Aufgaben für den Redner und umfasst dann eine ganze Methodik, mit Hilfe derer diese Aufgaben bewältigen werden können. Die Figurenlehre ist dabei ein zentraler Bestandteil, wenn es um die Ausarbeitung (elocutio) der Rede geht. In diesem Sinne sind auch die meisten der Figuren in Burmeisters Musica poëtica nutzbar. Anhand der Beispiele, die er im Wesentlichen aus Motetten von Orlando di Lasso nimmt, zeigt Burmeister, wie man mittels Figuren eine wirkungsvolle musikalische Gestaltung von Texten zu erreichen kann. Dass die musikalische Rhetorik in Form von Figuren und Affekten ein „Handwerkszeug zur Herstellung wirkungsvoller Musik“ anbietet und „ein Fachvokabular zur Analyse wirkungsvoller Strategien“ (Klassen 2006, S. 288) bereitstellt, ist mittlerweile Konsens. Diese Betrachtung unterscheidet sich wesentlich von der einer „systematischen Figurenlehre“ des 20. Jahrhunderts, wie Klassen wissenschafts-historisch zeigt (Klassen 2006).

Die Systematik hinter den Figurenkatalogen des 16. und 17. Jahrhunderts variiert von Autor zu Autor und sogar teilweise innerhalb verschiedener Veröffentlichungen desselben Autors. So auch bei Burmeister, dessen Figurenkatalog sich in drei Traktaten immer wieder erweitert und verändert. Die Systematik seiner Musicae poeticae von 1606 ist nur eine unter vielen. Die fehlende Einheitlichkeit und Systematik sollte aber für uns heute kein Hindernis sein, die Figuren für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts dennoch praktisch zu nutzen, auch wenn eine Bezugsgröße festgelegt werden muss. So wird in diesem Skript einzig Burmeisters Systematik dargestellt. Der Rahmen und damit auch die Funktion dieser Kategorien ist durch die rhetorische Tradition trotz aller unterschiedlichen Systematiken und Begrifflichkeiten gegeben.

Einsatzgebiete heute

Zwei Einsatzmöglichkeiten sind unmittelbar greifbar: (1) Die Figuren eröffnen eine analytische und interpretationspraktische Perspektive auf den Tonsatz. Der Figurenkatalog bietet dafür keine eindeutigen Lösungen aber doch interpretatorische und analytische Anhaltspunkte. (2) Hinsichtlich einer historische Satzlehre ist dieser gewonnene analytische Blick nützlich. Viele satztechnische Phänomene lassen sich mittels der Figuren genauer beschreiben, außerdem bietet die Figurenlehre einen Orientierungspunkt für Stilübungen. 

Ein gewisses Potenzial der Figurenlehre liegt aber auch in Hinsicht auf musikalisch-interpretatorische Arbeit. Die Begriffe öffnen einen bestimmten Assoziationsraum und liefern innerhalb dieses Raumes möglicherweise auch Anregungen zur Umsetzung bestimmter Passagen, die mit dem entsprechenden „Stilmittel“ oder Strategie geschrieben wurden. Pauschal ist hier freilich keine Aussage zu gewinnen, aber im konkreten Einzelfall und in der Betrachtung des Kontextes eben vielleicht schon.

Literatur

Die Artikel von Janina Klassen und Bettina Varwig stellen die Problematik und Produktivität der Figurenlehre innerhalb der musikwissenschaftlichen und musiktheoretischen Forschung dar und schlagen Lösungen vor. 

Drei Analysen, die allesamt von Burmeisters Analyse der Lasso-Motette „In me transierunt“ ausgehen, zeigen die Bandbreite an Fragestellungen, die sich aus der Lektüre der Musica poëtica entwickeln können: Anne Smith zieht dabei vor allem praktische und interpretatorische Schlüsse (Smith 2011, S. 102 ff.), Gottfried Scholz durchleuchtet die rhetorischen Hintergründe und zeigt vor allem auf, was Burmeisters Analyse nicht zeigt. Sie alle sind im Anhang an die Besprechung der Figuren bibliographiert.