Fuga imaginaria

4. De Fuga Imaginaria.

Fuga Imaginaria φυγὲ φάνταστικὴ est Vocis unius existentis Melodia quam alia unica ex eodem sono, aut ex diverso, vel etjam plures voces ad ruminandum, abripiunt. Eine Fuga Imaginaria besteht in der Melodie einer einzigen vorgegebenen Stimme, welche eine andere Stimme oder sogar mehrere Stimmen auf derselben oder auch auf einer anderen Tonhöhe fortreißen, um sie nachzuahmen.
Hoc fit in exiguis Melodiæ portionibus, quæ lusus gratiâ, non tam usus, & ita affinguntur, ut de novo ad placitum poßint aliquoties iterari. Dies geschieht in winzigen Abschnitten der Melodie, die nicht so sehr dank des Nutzen aber aus spielerischen Gründen so erfunden wurde, dass man sie nach Belieben einige Male von neuem wiederholen kann.
Fuga Imaginaria est duplex ὁμόφωνος unisona. πάμφωνοσ multisona, ὁμόφωνος Fuga Imaginaria est Melodia in omnibus Vocibus una & eadem, hoc est, Voces ὑστερόφωνοι Melodiam per eosdem intervallorum gradus imitantur; Exempla in Libellis musicis practicis, præsertim in Christophori Praetorij Silesij libro, Vlisseæ vel VVitebergæ excuso, plurima sunt ad manus. Eine Fuga Imaginaria gibt es auf zwei Arten: homophon (unisona) und pamphon (multisona). Eine homophone Fuga Imaginaria besteht aus einer Melodie die in allen Stimmen ein und dieselbe bleibt, d.h. die nachfolgenden Stimmen ahmen die Melodie mit denselben Intervallschritten nach. Beispiele dafür finden sich in den Musikbüchern besonders im Buch von Christopher Praetorius Silesius, das in Ülzen und Wittenberg gedruckt wurde und von dem viele Exemplare im Umlauf sind.
[66] Fit etjam ut in integris Harmonijs, ijsdemque longis; quæ Motetæ, aut alio nomine nuncupantur, alicujus Vocis fiat mimesis imaginaria. Exempla ejus sunt rara. Apud Euricium tamen Dedekindum, quem honoris & debitæ ipsi à me gratitudinis ac observantiae causâ nomino, in alterâ parte Periochorum ejus Dominicalium quadruplex exemplum invenitur. Es gibt auch den Fall, dass in ganzen Harmoniae sogar in langen, denen man schon den Namen Motette oder irgendeinen anderen geben könnte, eine mimesis imaginaria irgendeiner Stimme enthalten ist. Beispiele dafür sind selten. Bei Euricius Dedekind jedoch, den ich ehrenhalber nenne und auch der Achtung und Dankbarkeit halber, die ich ihm schulde, findet man im zweiten Teil seiner Periochi Dominicali ein vierfaches Beispiel.
πάμφωνος Fuga Imaginaria, est Melodia, quam ὑστρόφω[ν]ος imitatur non ijsdem intervallorum gradibus, sed per similes in distan[t]ia certa; ut Fuga in Epidiatessaron post [longam] (vgl. erste Abb. unen) Eine volltönende Fuga Imaginaria ist eine Melodia, die imitierend nachgeahmt wird und zwar nicht auf denselben Intervallschritten, sondern mit denselben Intervallen aber in einem bestimmten Abstand, wie z. B. in einer Fuga in der Oberquarte im Abstand einer Longa (vgl. erste Abb. unten).

Der Begriff Fuga imaginaria ist ein Begriff, der sich im Wesentlichen auf die Notation bezeicht. Man muss sich den Satz aus einer notierten Stimme „imagineren“. Von der Notation her gesehen beschreibt Burmeister das, was wir heute als Notation für Kanons kennen.

Burmeister geht allerdings schrittweise vor und erläutert auch das Entstehen einer solchen fuga imaginaria. Hier zeigt sich noch einmal, wie nahe die Figurenlehre am Kompositionsprozess liegt und wo der Schwerpunkt und die Absicht des Textes ist.

Systematisch geht Burmeister die Möglichkeiten für zeitliche und intervallische Einsatzabstände der comites durch. Das erste Beispiel zeigt eine Fuge mit diesen Angaben für die Oberquarte und dem Einsatzabstand einer Longa:

Das Beispiel ist anfangs ein normaler Oberquart-Kanon. Gegen Ende gibt es aber Rätsel auf, da dort unvorbereitet übermäßige Quarten auftreten. Es könnte sein, dass für die vorletzte Note ein Druckfehler vorliegt und die beiden letzten Semibreves a'-b' heißen müssten. Die Korrektur wäre sowohl melodisch als auch kontrapunktisch eine sinnvolle Lösung.

Die Zeichen und Begriffe wie „segno“ und die lateinisch-griechischen Begriffe „sub/epi“ + diapente/diatessaron etc., mit denen die Angaben gemacht werden, werden erläutert. Interessant ist Burmeisters Bemerkung, dass es auch eine Mimesis imaginaria geben kann. Als Beispiel nennt er den „verehrten“ Dedekind, der in seinen Periocha Dominicalia Beispiele dafür leifert. Außerdem nennt er die musica pratica von Christoph Praetorius aus Wittenberg, dessen Buch eine Fülle von solchen Fugae imaginaliae enthalte.

Dann folgt eine schrittweise Beschreibung, wie eine solche Fuga geschrieben werden kann. Burmeister geht dabei von einem 4-stimmigen Satz aus, dessen einzelne Stimmen dann zu einer „Kanonmelodie“ zusammengesetzt werden.

Auf diese Weise „materialisiert“ sich die „gedachte“ Fuga imaginaria nach und nach.

πάμφωνος Fuga imaginaria est tam multiplex, quam multiplices sunt distantiæ intervallorum, in quibus Melodia unius vocis, ab altera voce ruminari potest. Hinc usitatiora illa Fugarum sunt nomina: Fuga Epi & Subdiatessaron. Fuga Epi & Subdiapente, quæ ex pluribus, quam duabus vocibus non effinguntur: Vnisonæ autem Fugæ Imaginariæ ex pluribus, nimirum tribus, quatuor &c. Praxis utriusque Fugæ Imaginariæ, à Reali haud diversa hæc est. Fingitur enim Melodia alicujus Vocis, inque papyro vel tabula aliâve materia scribitur efficta; cum eâ tot voces harmonicè construuntur, quot cujusque Fugæ construc[ti]o admiserit. D[e]promatur ex hac (v. g.) Vocum syntaxi, Vocis, cujus placet, affectio, hâc tamen conditione, ut, si Bassi in dictâ syntaxi affectio primô locô depromi nequeat, primæ tamen ὐστεροφώνου sonis fundamentum sive basis Harmoniæ supponatur: Deinde reliquarum vocum reliqua loca vacua conson[a]ntijs impleantur. Hæc operationis Modus est brevis, qui etsi ad Fugas ὁμ[ο]φ[ω]νους propr[i]jssimè spectat, παμφωνῶν tamen praxin ingeniosus tyro ex isto facilè æstimabit, juxtaque eam ipsam diriget. Exemplis rem declarabimus quorum primum ad Vnisonarum Fugarum statum pertinens sit quatuor vocibus contexta hæc Harmoniola in Fugæ habitum convertenda: [67] Eine volltönende Fuga imaginaria ist so vielfältig, wie es Intervallabstände gibt, innerhalb derer die Melodie einer Stimme von einer anderen wiederholt werden kann. Daher sind diese Namen für die Fugae nutzlicher: Fuga in der Ober- und Unterquarte und Fuga in der Ober- und Unterquinte, die aus mehreren Stimmen nicht nur aus zwei Stimmen gemacht werden: Fugae Imaginariae im Unisonus aber werden aus mehreren Stimmen zusammengesetzt häufig aus drei vier Stimmen usw. Die Praxis der beiden Fugae Imaginariae unterscheidet sich nicht von der der Fuga Realis. Erfunden wird eine Melodie für irgendeine Stimme, die man auf Papier, einer Tafel oder etwas ähnlichem festhält. Mit dieser Stimme werden so viele Stimmen konstruiert, wie die Konstruktion dieser Fuga es erlaubt. Aus der Syntax dieser Stimme soll die affectio der Stimme, die gefällt, abgeleitet werden, aber unter der Bedingung, dass, wenn die affectio des Basses in besagter Syntax nicht zuerst abgeleitet werden kann, dass dann den Tönen das Fundament oder die Basis der ersten und später erklingenden Harmonia unterlegt werden soll. Darauf können verbliebenen leeren Stellen in den übrigen Stimmen mit Konsonanzen aufgefüllt werden. Dieses Verfahren, das auch auf homophone Fugae sehr gut anwendbar ist, geht schnell, dennoch werden die begabten Anfänger diese daraus resultierende Praxis leicht schätzen, und gemäß ihr verfahren. Mit Beispielen werden wir die Sache hier erläutern, die zur Art der Unisonus-Fugen gehören soll, und die aus vier Stimmen zusammengewoben ist. Dies soll in die Form einer kleinen harmonischen Fuga verwandelt werden:

Auf diese Weise „materialisiert“ sich die „gedachte“ Fuga imaginaria nach und nach.

 Ex hac Harmoniola depromitur Vox, Melodiave, quæ constructionis inceptioni maximè arridet, qualis in ea est secunda Vox sive Melodia. Hæc hôc modô depromitur et deducitur: Aus dieser kleinen Harmonia wird die Stimme, bzw. Melodie, herausgenommen, die zum Beginn der Konstruktion am meisten einlädt, was in unserem Fall die zweite Stimme bzw. Melodie ist. Sie wird auf folgende Weise herausgenommen und aufgeschrieben:
 ὑσερόφωνοι voces, affectionem supremæ vocis jam deductam mox in Fugam arripientes & vertentes, adordinantur ei, ut hic apparet: Die nachfolgenden Stimme, erhalten die affectio der obersten Stimme, die wir gerade aufgeschrieben haben, schon bald während der Fuga, sie werden ihr beigeordnet, wie es hier gemacht wird:
Deinde, Vocibus ita subordinatis, ex Harmoniola istâ depromo affectionem inferioris Vocis & super pono ὑστεροφώνῳ primæ Voci, quó προφωνεούσα vox primô locô Fugæ incrementum Melodiæ suæ accipit: Post Secundæ ὑστεροφώνῳ Voci super pono, quod primæ; & sic tertiæ, quod secundæ, in hunc modum: [68] Wenn die Stimmen so angeordnet sind, nehme ich daraufhin die affectio der untersten Stimme aus der kleinen Harmonia und setze sie über die erste nachfolgende Stimme, wodurch die vorausgehende Stimme, die an der erste Stelle in der Fuge steht, in ihrer Melodie verlängert wird. Danach setze ich die Melodie auch über die zweite nachfolgende Stimme, so wie bei der ersten und wiederhole das auch für die dritte Stimme auf diese Art:

Burmeister nimmt die zweite Stimme als Ausgangspunkt für den Satz:

Erste Anordnung der Stimmen:

Auffüllung mit einer weiteren Stimme:

Auffüllung mit den weiteren Stimmen: