Analyse in Burmeisters Musica Poëtica

Burmeister analysiert im Anschluss an seine Vorstellung der Figuren und Ornamente die Motette In me transierunt irae tuae von Orlando di Lasso. Das Kapitel De Analysi sive dispositione carminis musici stellt eine der ersten dezidierten und auch so benannten analytischen Texte der Musica poetica dar, die exemplarisch ein einzelnes Stück in den Blick nehmen. Gleichzeitig deutet der Titel auch an, eine Art Metatext „über die Analyse von Musikstücken“ sein zu können.

Auf den folgenden Seiten wird Burmeisters Analyse nachverfolgt. Sie stellt den heutigen Leser vor einige Fragen, da der Text an vielen Stellen nicht präzise auf das Stück verweist, ist ein teilweise nicht Unerheblicher Interpretationsspielraum gegeben. Insbesondere ab Abschnitt IV. und V. des Corpus cantilenae sind sicher auch andere Lesarten als die hier präsentierte möglich. Die unten abgebildete Unterteilung, die anhand der Angaben Burmeisters gemacht wurde, erscheint mir dennoch sinnvoll. Wo der Text nicht eindeutig war, waren rhetorische Aspekte des Textzusammenhangs und die musikalische Umsetzung in der Motette Grundlage für die zu treffenden Entscheidungen. Teilweise lassen sich auch problemlos weitere Figuren im Satz festmachen. Sie wurden in der Analyse hinzugefügt, auch wenn Burmeister sie nicht explizit angibt. Beim Nachvollziehen der Analyse stellte sich heraus, dass die genaue Berücksichtigung der Ebene, auf der die Figur angesidelt ist (harmonische/melodische Ebene bzw. beides), wichtige Erkenntnisse liefert.

Am Ende entsteht eine neue Perspektive auf den musikalischen Satz. Die Figuren fungieren ähnlich wie in der Rhetorik als Hilfen zur Beschreibung der handwerklichen Machart. Eine grundlegende Bedeutung einer bestimmten Figur im Sinne eines „Straßenschildes“ ergibt sich damit aber nicht. Wohl aber lassen sich Ideen zur Gestaltung der Musik daraus generieren.

Der folgenden Analyse ist daher jedem Abschnitt auch ein Klangbeispiel beigefügt. Somit lässt sich zum einen der Notentext akustisch nachvollziehen, da Aufnahmen der Motette rar sind, zum andern wurden – wie oben angedeutet – die Figuren auch als Ideengeber für die Gestaltung herangezogen.

 

Burmeisters Analysekapitel

Burmeister beginnt seine Analyse mit der generellen Einteilung eines Stückes nach rhetorischem Muster. Jedes Stück enthält damnach ein Exordium (Eröffnung/Einleitung) auf das der Corpus Cantilenae (narratio/Argumentation) folgt. Abgeschlossen wird das Stück durch eine conclusio, die er schlicht Finis nennt.

CAPVT XV. De Analysi sive dispositione carminis musici.

15. Kapitel Über die Analyse oder den Aufbau eines Musikstücks

ANalysis cantilenæ est cantilenæ ad certum Modum, certumque Antiphonorum Genus pertinentis, et in suas affectiones sive [72] periodos, resolvendæ, examen quô artificium, quô unaquæque periodus scatet, considerari et ad imitandum assumi potest. Partes Analyseos constituuntur quinque 1. Modi inquisitio. 2. Generis Modulaminum: et 3. Antiphonorum indagatio. 4. Qualitatis consideratio. 5. Resolutio carminis in affectiones, sive peridos.

Eine Cantilena zu analysieren heißt, dass man sie daraufhin untersucht, welchen Modus sie hat, welche Art des Kontrapunkts verwendet wurde und in in welche Affekte oder auch Abschnitte sie zerfällt. Dann geht es darum, das herauszugreifen, was man selbst nachahmen kann. Die Teile der Analyse sind also fogende: 1. Modusbestimmung, 2. Bestimmung des Ambitus der Stimmen, 3. Frage nach der Art des Kontrapunkts, 4. Überlegungen zu den Tetrachorden (mi/fa), 5. Unterteilung des Stückes in einzelne affectiones oder Abschnitte.

Modi inquisitio est eorum, quæ ad Modi, tum constituendi, tum cognoscendi notionem requiruntur in sonorum contextu sive facto, sive adhuc conficiendo, disquisitio.

Die Modusbestimmung ist die Untersuchung dessen, was zur Kenntnisnahme des Modus, sei es um ihn aufzustellen oder in zu erkennen, benötigt wird, und das im Kontext der Töne entweder des Gemachten, oder dessen, was bisher fertig wurde.

Generis Modulaminum indagatio, est intervalli Quartæ examen, quô pervestigatur, quomodo ea conflata ex suis minoribus intervallis, usum in carmine habeat, quemque characterem gerat. Die Frage nach der Art des Modus bedeutet, dass man beim Intervall der Quarte untersucht, wo sie auftritt und auf welche Weise sie aus kleineren Intervallen zusammengesetzt ist. Außerdem welche Funktion sie im Stück hat und welchen Charakter sie führt.
Generis Antiphonorum observatio, est sonorum in quantitate et valore collatio. Die Beobachtung der Art der Kontrapunkts heißt, sich einen Überblick über die Töne in ihren Notenwerten und Gewichten zu verschaffen.
Qualitatis consideratio, est attendere an soni Melodiarum sapiunt ordinem Diezeugmenorum sonorum aut B duralis cantus; vel synezeugmenorum aut B mollaris cantus?

Die Überlegung zu den Tetrachorden bedeutet, sich zu fragen, ob die Melodietöne ohne Überschneidungen in den Tetrachorden liegen, bzw. dem H im cantus durus folgen, oder dem B im cantus mollis.

Resolutio Cantilenæ in affectiones, est divisio cantilenæ in periodos, ad disquirendum artificium, et idipsum ad imitationem convertendum. Hæc tres habet partes, 1. Exordium. 2. Ipsum corpus carminis, 3. Finis. Die Unterteilung der Cantilena in affectiones entsprichtt der Einteilung der Cantilena in Abschnitte, um das Kunstwerk zu untersuchen und es zur Nachahmung aufzubereiten. Die Cantilena besitzt diese drei Teile: 1. Exordium, 2. das corpus carminis selbst, 3. einen Schluss. 
Exordium, est prima carminis periodus, sive affectio, Fugâ ut plurimum exornata, quâ auditoris aures et animus ad cantum attenta redduntur, illiusque benevolentia captatur. Exordium eò usque pertingit, quê Fugæ affectio prorsus desijt sub introductione Clausulæ veræ, vel tractuli Harmonici speciem Clausulæ habentis. Hoc fieri animadvertitur ilicò, ac nova affectio à Fugæ affectione prorsus aliena introducta apparet. Quod autem omnes cantilenæ à Fugæ ornamentô initium semper faciant hoc exemplis non comprobatur. Quô intellectô, Philomusus usum sequatur, et quid is probet. Noema locum quandoque in Exordio obtinet. Vtinam, quam sæpè hoc fit, tam sæpè ea textui inserviat sententioso, et quæ sunt alia, quæ usus monstrabit. Das Exordium stellt den ersten Abschnitt oder die erste affectio des Stückes dar. Meist wird der Teil mit einer Fuga gestaltet, durch welche die Ohren und der Geist der Hörer zur Aufmerksamkeit auf den Gesang geführt wird und dessen Wohlwollen erreichen möchte. Das Exordium erstreckt sich bis dort, wo die affectio der Fuga geradewegs verschwindet, weil die erste echte Klausel eingeführt wird, oder alle Einzelstimmen etwas in der Art einer Klausel bekommen haben. Man bemerkt, dass das dort geschieht, und eine neue andere affectio geradewegs erscheint, die von der affectio der Fuga aus eingeführt wurde. Weil aber alle cantilenae vom Ornament der Fuga ihren Ausgangspunkt nehmen sollen, wird dies hier nicht mit Beispielen bewiesen. Wenn man das verstanden hat, möge der Musikliebhaber dem Gebrauch einfach folgen, und was es zeigen wird. Auch das Noema findet dann und wann im Exordium einen Platz. So oft dies geschieht, so oft möge dies dem Textsinn dienen. Und es gibt andere Cantilenae, die diesen Gebrauch demonstrieren werden.
Corpus Cantilenarum est intra Exordium et Finem affectionum sive periodorum comprehensa congeries, quibus textus velut varijs Confirmationis Rhetoricæ argumentis. animis insinuantur, ad sententiam clarius arripiendam et considerandam. Das corpus cantilenarum ist die Menge an affectiones oder Abschnitten, die zwischen Exordium und dem Schluss stehen. Mit ihnen wird der Text vergleichbar den verschiedenen Argumenten der rhetorischen Überzeugungsarbeit dem Geist nahe gebracht, damit der Sinn umso klarer erfasst und abgewogen werden kann.
Hoc non excrescat nimium, ne propterea, quod sit nimis extensum in auditoris [73] odium incurrat: Omne enim nimium ingratum est, et in vitium verti solet. Dies soll sich aber nicht zu stark ausdehnen, damit nicht deswegen, weil es zu sehr ausgedehnt wurde, bei den Hörern ein Hass zu schwelen beginnt: Alles, was nämlich zu sehr ins undankbare geht, verwandelt sich doch einmal in eine Belastung.
Finis est Clausula Principalis, in qua aut tota subsistit modulatio, aut subsistentibus vocibus duabus, vel unâ, reliqua adhuc modicum modulaminis aspergunt, quod Supplementum vocatur, eô, ut dilucidior in animos attendentium penetret à modulando instans desinentia. Der Schluss ist die Haupt-Klausel, in der die ganze harmonische Bewegung zum Halten kommt. Es kann auch passieren, dass, wenn eine oder zwei Stimmen zum Stehen gekommen sind, die übrigen Stimmen das Stück noch ein wenig weiterführen und etwas hintupfen, was dann Supplementum genannt wird, dadurch, dass es ganz deutlich in die aufmerksamen Gemüter eindringt und vom weiteren Fortführen aber sofort ablässt.

 

Der Text und Aufbau von In me transierunt

Der Text zu In me transierunt stammt aus den Psalmen 88 und 38. Gottfried Scholz geht von der Verwendung der Motette zur Begleitung einer „Krankenölung am Bayerischen Herzogshof“ aus. Er weist auch darauf hin, dass Burmeister die Funktion der Musik im protestantischen Rostock nicht mehr bekannt gewesen sein dürfte.

Psalm 38 ist der dritte Bußpsalm. In der Lutherbibel von 1984 ist er mit dem Zusatz „In schwerer Heimsuchung“ überschrieben, wohingegen Psalm 88 den Zusatz „Gebet in großer Verlassenheit und Todesnähe“ erhält.

In der Disposition des Stückes fällt auf, dass Lasso dem Exordium und dem Text „(dolor meus) in conspectu meo semper“ am meisten Platz einräumt. Diese Teile sind mit einer Fuga gestaltet. Die übrigen Abschnitte bewegen sich auffällig oft um die Zahl von sechs Mensuren.

 

Exemplum Analyseos Cantilenæ In me Transierunt Orlandi Quinque vocum.

Beispiel einer Analyse der Motette In me transierunt zu fünf Stimmen von Orlando di Lasso

Hæc Harmonia In me transierunt Orlandi Dilassi elegans & aurea, determinatur Modo Authentâ Phrygiô. Ambitus namque integri omnium Vocum Systematis est, # B & e. Singularum verò Vocum Ambitus sic se habent, quod videlicet Discantus inter e & e; Tenor uterque inter E e; Bassus inter # B & # b; Altus inter # b & # b terminetur. Basis etjam Temperamenti est, orthia sive authentica. Intervallum enim Diapente ab E ad ♮ vel # b manifestè datur. Deinde Clausula Affinalis eò loci, ubi hæc Diapente in duas partes æquales diffinditur, plenâ, ut ἑχάφωνο: Clausula formari solet formatione introducitur. Vocum Alti & Bassi plagalis est Ambitus. Mediatur enim Ambitus earum eò loci, ubi inferiori parti Diatessaron, superiori Diapente attribuitur, Clausulæ ijs etjam in locis, quæ in hôc Modô ad plenam, præsertim τρεφωνῶμ, formationem sunt jam longô usu inventa & recepta, formatæ ostenduntur. Semitonia etjam compârent utraque in suis quæque locis. Inferioris enim Semitonij locus est ab imô Ambitus authentici primum intervallum. Superioris est planè idem cum inferioris locô & cetera. Finem Harmonia obtingit in E authenticum & Principalem, qui est, & esse solet Tenoris Ambitus infimus sonus. Secundo pertinet ad Genus Modulationum Diatonicum: quia ejus intervalla ut plurimum formantur per Tonum, Tonum, & Semitonium. Tertiò pertinet ad Genus Antiphonorum Fractum. Sunt enim Soni alteri cùm alteris in non æquali valore connexi. Quartò est Qualitatis Diezeugmenorum. Nam in à & b per totum cantum fit Tetrachordorum disjunctio. Diese elegante und glänzende HarmoniaIn me transierunt“ von Orlando di Lasso steht im authentischen phrygischen Modus. Der Ambitus des gesamten Stückes ist H bis e''. Die Ambitus der einzelnen Stimmen sind dann aber folgende: Der Discant sollte sich offensichtlich zwischen e' und e'', die beiden Tenorstimmen zwischen e und e' der Bassus zwischen H und h, der Altus zwischen h und h' bewegen. Die Basis ist auch das Maß dafür und sie ist richtig oder authentisch. Das Intervall der Quinte von e bis h ist nämlich ganz klar gegeben. Dann wird die Clausula affinalis an der Stelle eingesetzt, wo diese Quinte in zwei gleiche Teile geteilt wird. Das geschieht in voller Ausführung, wie eine Clausula he[x]aphona[?]. Der Ambitus der Alt- und Bass-Stimme ist plagal. Geteilt wird der Ambitus dieser Stimmen dort, wo dem tieferen Teil eine Quarte dem höheren eine Quinte zugeteilt werden kann. Es treten solche Clausulae auf, die an den Stellen, die in diesem Modus in ihrer vollen Ausführung beinahe triphonos sind, gebildet werden, weil sie durch ihren langen Nutzen gefunden und etabliert sind. Auch die Halbtöne befinden sich beide an ihren Plätzen. Der Ort des unteren Halbtons ist von unten betrachtet das erste Intervall im authentischen Ambitus. Der Ort des oberen Halbtons ist völlig identisch mit dem des unteren Halbtons usw. Das Ende der Harmonia fällt auf den authentischen und Hauptton E, was auch der tiefste Ton des Tenor-Ambitus ist und sein soll. Zweitens gehört das Stück in das diatonische Genus, weil die meisten seiner Intervalle aus zwei Ganztönen und einem Halbton bestehen. Drittens gehört es zur Art des „gebrochenen“ Kontrapunkts. Ein Ton ist nämlich mit den anderen nicht über gleiche Notenwerte verbunden. Viertens geht es um die Verbindung der Tetrachorde. Es geschieht im ganzen Stück eine Trennung von a und b.
Porro hæc Harmonia in novem periodos commodissimè distribui potest, quarum prima, continet Exordium, quod est exornatum duplici Ornamento, alterô Fuga Reali; alterô Hypallage. Septem intermediæ sunt ipsum Harmoniæ Corpus, velut (si ita cum altera aliquâ cognatâ arte comparare liceat) [74] Confirmatio in Oratione. Ex quibus prima Hypotyposi, Climace, & Anadiplosi est exornata; Secunda similiter, cui superaddi potest Anaphora; Tertia Hypotyposi & Mimesi; Quarta modô pari, & insuper Pathopoëiâ; Quinta Fugâ reali; Sexta Anadyplosi & Noëmate; Septima Noëmate & Mimesi; Vltima, scilicet nona periodus, est velut Epilogus in Oratione. Finem hæc Harmonia Principalem exhibet, ductum per illa concentuum loca, in quibus Modi, ad quem Harmonia refertur, natura consistit, & quæ tota Harmonia solet sæpius reliquis sonorum locis attingere, alias vocatum Finalis Clausulæ Supplementum, quod usitatissimè ornamenti Auxeseos cultum secum ferre solet. Weiter lässt sich diese Harmonia sehr bequem in neun Abschnitte einteilen. Der erste Abschnitt enthält das Exordium, welches mit einem doppelten Ornament gestaltet ist: einmal einer Fuga Realis und einmal mit einer Hypallage. Die sieben mittleren Abschnitte bilden das Corpus der Harmonia. Wenn man es mit Mitteln einer anderen Kunst vergleichen möchte, ist es wie die Confirmatio in einer Rede. Dort ist der erste Teil mit einer Hypotyposis, einer Climax und einer Anadiplosis gestaltet. Der zweite Teil genauso, aber man kann noch eine Anapher hinzufügen. Der dritte Teil ist mit einer Hypotyposis und einer Mimesis gestaltet, der vierte ebenso wozu noch eine Pathopoeia kommt. Der fünfte Teil ist mit einer Fuga Realis gemacht. Der sechste Teil mit einer Anadiplosis und einem Noema. Der siebte Teil ist mit einem Noema und einer Mimesis gestaltet. Der letzte Teil und freilich neute Abschnitt ist so etwas wie der Epilog in einer Rede. Das ordentliche Ende erreicht diese Harmonia, nachdem sie durch alle jene Stellen des Gesangs hindurch geführt wurde, aus denen die Natur des Modus, auf den sich sie sich bezieht, besteht. Die ganze Harmonia pflegt diese öfter als die übrigen Töne zu streifen. Das andere Ende wird Supplementum der Clausula Finalis genannt, weil hier üblicherweise die Figur der Auxesis genutzt wird.